Unter dem Titel: "Der Wilde Robert sagt ade" brachte "Der Rundblick" einen ausführlichen Bericht über die Abschiedsfahrt Wermsdorf – Neichen am 27. August 1967.
Autor war Fritz Thomas, Leiter des Mügelner Heimatmuseums.
Hier einige Auszüge aus diesem Beitrag:
Der Verlauf der letzten Fahrt
Festlich geschmückt stand der Personenzug 11 360 auf dem Mügelner Bahnhof bereit zur Abfahrt.
Ein Packwagen und acht Personenwagen harrten des Vorspanns.
Geschäftig eilten Reichsbahner hin und her, den eingeladenen Fahrtteilnehmern die Plätze anzuweisen.
Zugführer Grüneberger rückte immer wieder sein rotes Bandelier zurecht und Inspektor Pörschel hatte Sorgen, daß die Wagons nicht ausreichen würden.
Der Konsum hatte einen "Mitropawagen" mit leckeren Speisen und Getränken zur Verfügung.
Dieser einmalige Speisewagen auf unserer Bimmelbahn erfreute sich schon vor der Abfahrt regen Zuspruchs, und Frau Schulz und Frau Bienert hatten alle Hände voll zu tun, um allen Ansprüchen zu genügen.
Inzwischen nahte in vollem Putz und frisch gestrichen die Lok 99562, deren Personal aus Lokführer Wunderlich u. Lokheizer Kielan, alten und vielfach bewährten Eisenbahnern, bestand, denen die Ehre zuteil geworden war, noch einmal auf dieser ihnen in langen Jahren so vertraut gewordenen Strecke ihren "Wilden Robert" zu führen.
Pünktlich 15.08 Uhr hob Fahrdienstleiter Franke die Signalkelle für die denkwürdige Fahrt, und mit den üblichen akustischen Geräuschen dampfte der Zug ab.
Erstaunt sahen viele Spaziergänger den geschmückten Zug mit seinen Aufschriften durch das Döllnitztal fahren.
Doch in Wermsdorf änderte sich das Bild.
Bahnsteig und Rampe standen voller Zuschauer und als die wackere Feuerwehrkapelle ein Standkonzert gab, wuchs die Menschenmenge zusehends.
Der Abschiedszug im Bahnhof Wermsdorf.
Ausfahrt aus Mutzschen.
Auch hier, wie in Mügeln, nahmen Eisenbahnveteranen und Behördenvertreter Platz, und ab gings, am schönen Horstsee entlang.
Die Badenixen brauchten sich diesmal nicht vor dem Qualm der Lok ins kühle Naß zu flüchten denn es war Nordwind, und - Badenixen waren nicht zu sehen.
Festlich geschmückt war der Bahnhof Mutzschen, und die Menschenmassen stauten sich fast wie auf dem Altmügelner Stoppelmarkt.
Hier, wie auf all den folgenden Stationen, gab die Musikkapelle ein Ständchen, und stets gab es wohlwollenden Beifall.
Zwar sah man bei manchen Alten, wie sie heimlich eine Träne zerdrückten, aber überwiegend sah man fröhliche und lachende Gesichter.
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In Neichen wurde der Zug von Vertretern des Rates des Bezirkes, des Kreises, der Reichsbahndirektion Halle und vom Bürgermeister empfangen.
Aktivisten wurden geehrt und auf die große Bedeutung des Verkehrsträgerwechsels hingewiesen.
Eine besondere Freude widerfuhr dem 84jährigen Schmiedemeister i.R. Ernst Börner, der am 1. November 1888 die erste Fahrt nach Wermsdorf mit seinem Vater mitgemacht hatte.
Als Ehrengast nahm er nach 79 Jahren an der letzten Fahrt teil.
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Die Rückfahrt gestaltete sich zu einem Volksfest.
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In Cannewitz übergab der Braumeister ein Fäßchen Gerstensaft von bekannter Güte, und auf jeder Station erhielten die Inhaber der Bahnagenturen als Anerkennung für ihre oft langjährige gute Arbeit Präsentkörbe, so Frau Hennig, Gornewitz; Frau Marks, Cannewitz und Frau Haberecht Wagelwitz.
In Mutzschen erreichte die Anteilnahme der Bevölkerung ihren Höhepunkt. Die Musikkapelle mußte mit sanfter Gewalt in ihr Abteil gebracht werden, sie sollte immer "noch eenen druff machen".
Viele gaben ihre Verbundenheit zu ihrer "alten Bimmelbahn" Ausdruck durch Blumen und Geschenke, vor denen sich das Lokpersonel kaum retten konnte.
Besonders schön empfanden die Männer von der "Zugspitze", daß in Wermsdorf und den anderen Stationen die Jungen Pioniere an die Lokomotive kamen, frohe Lieder sangen und weiterhin gute Fahrt wünschten.
Der Winterfahrplan 1967/68 zeigt: Alles vorbei!
Kursbuch der Deutschen Reichsbahn,
Winterfahrplan 24. September 1967 bis 25. Mai 1968; S. 138.
Die Abschlußfeier in Wermsdorf
Nach der Einfahrt in Wermsdorf sprach der Verwaltungsleiter der Reichsbahndirektion Dresden über die Bedeutung des Tages.
Der Verkehrsträgerwechsel, beginnend mit der 5-Tage-Arbeitswoche, wurde notwendig, weil die Fahrzeiten der Kleinbahn nicht im Einklang mit den Belangen der Werktätigen stehen.
Durch die Beförderung mit dem Bus erwächst ein Zeitgewinn von fast einer Stunde, ganz zu schweigen von der Rentabilität der Strecke.
Der Direktor des Kraftverkehrs Waldheim betonte, daß der Kraftverkehr voll und ganz die bisher von der Reichsbahn durchgeführten Obliegenheiten übernimmt und bestrebt sei, pünktlich und zuverlässig alle daraus entstehenden Pflichten zu übernehmen.
Daraufhin übergab Zugführer Grüneberger sein Zugführerbandelier an einen Fahrer der bereitstehenden Linienbusse, indem er dem Kraftverkehr allzeit gute Fahrt wünschte.
Zum Abschluß erfolgte eine würdige Ehrung verdienter aktiver und inaktiver Eisenbahner.
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Alles in allem, ein wohlgelungenes Unterfangen, das alle Beteiligten voll befriedigte, weil die gute Zusammenarbeit von Reichsbahn und Kraftverkehr in einer Weise manifestiert wurde, die alles Gute für die Zukunft hoffen läßt.
Wenn auch bisher für viele an der alten Strecke Wohnende der Pfiff des Frühzuges das Signal war, sich vom Schlaf zu erheben, so wird in Zukunft das Hupen des Linienbusses an seine Stelle treten.
Die Zeit steht nicht still.
Zu neuen Ufern führt ein neuer Weg.
Der Rundblick - Monatsschrift für Kultur und Heimat der Kreise Wurzen, Oschatz, Grimma und angrenzende Gebiete
Herausgeber: Deutscher Kulturbund, Kreisleitung Wurzen
Heft 10/1967; S. 481 - 484.
Nachbemerkungen
Noch 1969/70 traf Helmut Böhme den erwähnten "Mitropawagen" mit seiner markanten Aufschrift im Bahnhof Mügeln als Mannschaftswagen an.
So problemlos, wie es der euphorische Bericht vermuten lässt, war der Übergang zum Kraftverkehr dann aber doch nicht, noch Ende 1969 wetterte der Mutzschener Bürgermeister Hampel (NDPD), als seine Stadt zum Verkehrsträgerwechsel im Güterverkehr genötigt wurde:
Er habe keinen Ratsbeschluss herbeiführen können, "weil wir im Hinblick auf die Stillegung des Personenverkehrs schlechte Erfahrungen gemacht haben."
Die Straßen waren einfach noch nicht geeignet, man musste mit kleinen Bussen fahren.
Eine Buslinie Neichen – Oschatz gab es bis in die 1980 er Jahre, ab Wermsdorf verdichtete sie den Verkehr auf der Linie Wermsdorf – Oschatz.
Doch bis zuletzt fuhren kleinere Ikarus-Busse, und stets waren es die "historischen Modelle".
Keinerlei Kritik würdig ist dagegen der gegenwärtige Zustand: Die Buslinie Wermsdorf - Mutzschen - Grimma bietet ein derart gutes Fahrplanangebot, dass Wermsdorf besser an Grimma angebunden ist als an die im eigenen Landkreis liegende Stadt Oschatz.
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